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Vom Zweifel

Von Pastor Hilmar Warnkross

„…glaubte ich, ich müsse… all das als völlig falsch verwerfen, wofür ich mir nur den geringsten Zweifel ausdenken könnte, um zu sehen, ob danach nicht irgendeine Überzeugung übrigbliebe, die gänzlich unbezweifelbar wäre.“

Schrieb René Descartes im 4. Teil seines Diskurses über die Methode des richtigen Vernunftgebrauches, veröffentlicht im Jahr 1637. Als ersten Grundsatz der Philosophie bestimmt er daraufhin, die von ihm erkannte Wahrheit: „cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich.) Ein neues Selbstbewußtsein der philosophischen Neuzeit war damit geboren und setzte sich in immer radikaleren Fragestellungen zu den menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und vor allem menschlichen Glaubensmöglichkeiten fort.

Aufbruch in den Zweifel

Kein Philosoph seitdem, der nicht über Glaubensdinge nachdachte. Nichts war vor diesem Fragen und Prüfen sicher. Geschützt von neuen Machtverhältnissen in Europa, die den Einfluß der katholischen Kirche begrenzten und die zunächst durch die Reformation als auch durch furchtbare und lange Kriege erkämpft wurden, begannen die Gelehrten und mit ihnen viele Menschen ganz neu mit dem Hinterfragen jeglicher Glaubensaussage und Glaubensautorität. Es wirkte wie ein Aufbruch in neue und klare Zeiten nach einem rückblickend für dunkel erachteten Mittelalter und man nannte dieses Denken darum Aufklärung, Ausgang des Menschen aus Unmündigkeit. Neu war dies nach den Jahrhunderten der Glaubenstradition, weil bisher die Autorität der Kirche und der Heiligen Schrift allein für die Antworten zuständig waren, um mit den Fragen und dem Zweifel fertig zu werden. Während diese Emanzipation des Geistes neu war, der Zweifel war es nicht. Aber auch ein autoritätsverneinender, freier Geist muß sich im Zweifel erst bewähren.

Die ältesten Geschichten des Zweifels von Menschen erzählt die Bibel selbst. Die Schlange im Paradies zieht die Güte Gottes in seinen Anordnungen in Zweifel und zerstört so die Geborgenheit des Paradieses. Jegliche selbstgewählte Macht und Religion im Alten Israel geht mit Konflikten einher und mit oftmals schlimmen Konsequenzen für die Akteure. Immer wieder ist es der Zweifel, der diesem Tun seine Nahrung gibt.

Thomas – der „Zweitfall“

Im Johannesevangelium bekommt der Zweifel einen besonderen Namen: Thomas. Der Name stammt aus dem Aramäischen, der Sprache, die Jesus sprach, und bedeutet Zwilling. Als Zwilling bezeichnete man damals das zweite Kind des Zwillingspaares. Man wußte um die geringere Lebenserwartung und die Ähnlichkeit, die zur Verwechselung der Kinder führte, irritierte die Menschen so sehr, daß manche zweitgeborenen Zwillingskinder auch ausgesetzt wurden, um sie zu töten. Das erstgeborene Kind bekam den ihm bestimmten Namen, das Zwillingskind hieß einfach Zwilling. Der „zweite Fall“ des ersten Kindes, sozusagen der „Zweitfall“ – die „zwei Fälle“ – also der Anlaß zum Zweifel für die Umwelt. Kein Zufall also, daß der Zwilling Thomas die Verkörperung des Zweifels wurde. Unter den Jüngern Jesu war ein solcher Zwilling, ein Thomas, aber es waren ja häufig Menschen in Jesu Gefolge, die es nicht leicht im Leben hatten oder ausgegrenzt wurden.

Thomas hatte den auferstandenen Herrn nicht nur nicht gesehen, es hätte, wie er sagte, ihm auch dann nicht zum Glauben gereicht, wenn er ihn wie die anderen Jünger hätte sehen können. Er wollte ihn anfassen und seine Wunden und auch seine Leiblichkeit nach der Auferstehung prüfen. Nun war, so schildert es das Johannesevangelium, Jesus unter die Jünger getreten, die sich in einem verschlossenen Raum aus Angst vor Verfolgung durch die Juden aufhielten (Joh 20,24ff, LUT2017, BasisBibel).

Sehen, Fühlen, Glauben?

Eine Leiblichkeit Jesu nach der Auferstehung wie zu Lebzeiten vor dem Tod war also nicht denkbar. Er hätte sonst nicht durch die verschlossene Tür oder die Wände treten können. Die Prüfung des Thomas hätte das erweisen müssen. Bis an die Grenze des Vorstellbaren geht das Johannesevangelium, als Jesus Thomas auffordert, seine Hände in die Wunden zu legen. Aber es berichtet nicht davon, daß er es tat und Jesus sagt auch nicht zu ihm, weil du mich berührt hast, sondern weil du mich gesehen hast, glaubst du. Der letzte Zweifel bleibt darum auf diesem Weg der Vergewisserung durch das Lesen des Evangeliums unausgeräumt – bis heute.

Über die Jahrhunderte sind viele Bilder gemalt worden, auf denen Thomas Jesus wirklich berührt, aber das biblische Zeugnis gewährt kein solches „Prüfergebnis“. Im Gegenteil, Jesus verbietet auch Maria, die den Auferstandenen in großer Trauer berühren möchte und sagt: „Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.“ Auf Latein ist dieser Satz über die Jahrhunderte der Kirche überliefert worden: „Noli me tangere!“ Mit der philosophischen Skepsis, mit den menschlichen Möglichkeiten der Vergewisserung, ist keine Gewißheit in der Frage nach der Auferstehung Jesu und damit auch der christlichen Auferstehungshoffnung, die uns nach Jesu Kreuzigung bezeugt wird, zu gewinnen. Was die Jünger Jesu sahen, erfuhren und bezeugten, was die Briefe und Evangelien uns überliefern, können wir nicht prüfen.

Aber es ist nicht die einzige ungesicherte Hoffnung, die uns im Leben begleitet. Immerfort sind wir zu Vertrauen genötigt, das keine Prüfung zuläßt. Alle Testberichte zu Konsumgütern, Serviceleistungen und Qualitätsstandards, alle Prüfungen der Küchenqualität in Restaurants, der Lebensmittelsicherheit, der Qualität von Wasser, Boden und Luft, Sicherheit des Ersparten, der Verkehrsmittel, vor Terrorgefahren und krimineller Gewalt, die Risiken der Zukunft für uns und unsere Nachkommen, die Liebe zu Menschen, ganz gleich was wir denken oder tun, wir müssen vertrauen ohne ausreichend sicher sein zu können. Es ist eine Haltung, die uns leben läßt. Geht sie verloren oder wird sie nicht erworben oder wird sie traumatisch erschüttert, ist das Leben nicht lebbar. Die Geborgenheit des Paradieses, von der die Bibel erzählt, bekommen wir nicht wieder zurück. Alle Geborgenheit im Leben ist auf Zeit.

Zwillinge: Glaube und Zweifel

Einzig die Geborgenheit des Glaubens kann alle Zeit überdauern. Jesus sagt zu Thomas, wer so glauben kann, ohne sich sehend vergewissern zu müssen, ist ein glücklicher Mensch. Glaube kann glücklich, Zweifel kann unglücklich machen. Aber sie sind beide wie Zwillinge. Glaube und Zweifel kommen immer zusammen. Wir können den Zweifel nicht wie einen Zwilling aussetzen, um nicht irritiert zu werden. Wir können das Versprechen des Glaubens aber auch nicht dadurch beseitigen, daß wir uns die versprochenen Sicherheiten des Zweifels in dauerndem Skeptizismus zu eigen machen und unsere Geborgenheit in der Macht der Vernunft suchen, wie es die Philosophie der Neuzeit versucht hat oder die Abonnenten aller Test- und Prüfberichte es versuchen könnten. Glaube und Zweifel sind allein versöhnt in Gott. In ihm gibt es nicht zwei Fälle in allem, sondern nur einen: Gott in Allem. “In ihm leben, weben und sind wir“ hat Paulus zu den Athener Philosophen gesagt. Wenn Gott uns eines Tages schauen läßt, was wir jetzt glauben und bezweifeln, wird es keine Zweifel mehr geben

Hilmar Warnkross ist Pastor der evangelischen Kirchengemeinde Gartz (Oder).

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