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Digitalgottesdienst Liturgie

Zweifel an Studien zu Digitalgottesdiensten

In einer Ende September verbreiteten Pressemitteilung feierte sich die EKD dafür, Kirche sei „digitaler geworden“. Zwei Studien sollen nach den Worten des EKD-Ratsvorsitzenden und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zeigen, dass die Corona-Pandemie für die Kirchen mit einem „Aufbruch von innen“ verbunden gewesen sei. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Thorsten Latzel, fasst die Studien mit den Worten zusammen, auch nach der Pandemie wollten Gemeindeglieder „die Möglichkeit haben, digital Gottesdienst zu feiern“. Die verbreitete Euphorie hält einer kritischen Lektüre der Studien nicht stand. Sie geben nichts belastbares dazu her, ob und wann Online-Gottesdienste von Gottesdienstbesuchern tatsächlich nachgefragt werden. Noch viel weniger lässt sich ihnen entnehmen, dass Online-Gottesdienste Menschen gewonnen hätten, die sich bisher von klassischen Gottesdiensten nicht angesprochen gefühlt haben.

Midi-Vergleichsstudie

Bei der ersten Studie handelt es sich um die von Daniel Hörsch verantwortete midi-Vergleichsstudie zum Gottesdienstlichen Leben in der Pandemie (Link zum Volltext). Dabei handelt es sich um eine Folgebefragung von Kirchengemeinden. Bereits 2020 waren Kirchengemeinden aus vier Landeskirchen (Württemberg, Nordkirche, Kurhessen-Waldeck und Mitteldeutschland) zu ihrem Umgang mit dem pandemiebedingten Lockdown befragt worden. Diejenigen Gemeinden, die sich damals zurückgemeldet hatten, wurden nun darum gebeten, in einer Online-Umfrage Auskunft zu ihren Erfahrungen mit Online-Formaten im weiteren Verlauf der Pandemie zu geben. Von den Kirchengemeinden, die sich wieder zurückgemeldet haben, gab mehr als die Hälfte an, auch nach dem 1. Lockdown regelmäßig einen digitalen Gottesdienst angeboten zu haben. Der Anteil erhöht sich auf zwei Drittel, wenn die Rückmeldungen hinzugezählt werden, die „ab und an“ einen digitalen Gottesdienst angeboten haben (S. 25).

Wichtig zum Einordnung ist aber: Die Umfrage richtete sich eben nicht an Gottesdienstbesucher, sondern an die Kirchengemeinden. Typischerweise dürfte der jeweilige Pfarrer die Umfrage beantwortet haben. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer von 18 Minuten für den längeren Fragebogen unterstreicht, dass es sich dabei um eine relativ spontane Selbsteinschätzung handelte. Dabei liegt es nahe, dass ein Pfarrer tendenziell eher angeben wird, wenigstens „ab und zu“ einen Digitalgottesdienst durchgeführt zu haben, als sich einzugestehen, dass dies „kaum“ oder „nie“ geschehen ist. Denn die öffentliche und innerkirchliche Erwartungshaltung, Digitalangebote zu stärken, ist bekannt.

Die Studie lässt eine kritische Hinterfragung dieser Selbsteinschätzungen grundsätzlich vermissen, wie zwei andere Aspekte zeigen. Zum einen wurde danach gefragt, ob „gute Erfahrungen aus der Zeit mit digitalen Verkündungsformaten auf den analogen Gottesdienst übertragen“ worden seien. Für verschiedene Kategorien wie „Musikalische Gestaltung betreffend“ oder „Liturgie betreffend“ bejahten dies jeweils über drei Viertel der Befragten (S. 33). Damit dürfte kaum etwas anderes als der Suggestivcharakter der Frage offengelegt sein – welcher Pfarrer will schon von sich behaupten, „gute Erfahrungen“ nicht übertragen zu haben? Stattdessen hätte konkret ermittelt werden müssen, ob es gute Erfahrungen in digitalen Formaten gibt und welche das konkret sind. Zum anderen verwundert der Umgang mit den selbstgeschätzten Zahlen zur Reichweite digitaler Gottesdienste. Durchschnittlich bescheinigten sich die befragten Gemeinden für die Zeit nach dem 1. Lockdown eine Reichweite ihrer Online-Gottesdienste von ungefähr 200 (S. 28)! Nach den Statistiken für 2019 (S. 22) gab es am Sonntag Invokavit 2019 durchschnittlich 42 Gottesdienstbesucher in evangelischen Kirchen. Nach der Selbsteinschätzung müssten die digitalen Gottesdienste also mehr als viermal so gut besucht (!) sein wie Präsenzgottesdienste vor der Pandemie. Das dürfte der Erfahrung kirchlich Engagierter landauf, landab diametral widersprechen. Auch Hörsch scheint diese Selbsteinschätzung für übertrieben zu halten, denn sonst hätte er sie als das Ergebnis überhaupt der Studie herausstellen müssen.

Das eigentliche Kernproblem der Studie liegt allerdings in ihrer fehlenden Repräsentativität. Denn die Studie beruht auf lediglich 194 Rückmeldungen (S. 17). An der ursprünglichen Ad-Hoc-studie von 2020 hatten noch 897 Gemeinden teilgenommen (Volltext S. 17). Damals waren die Gemeinden über einen kirchlichen Email-Verteiler angeschrieben wurden. Von diesen 897 Gemeinden wurden nunmehr nur noch diejenigen erneut angeschrieben, die damals angegebeten hatten, digitale Gottesdienstformate im 1. Lockdown durchgeführt zu haben (nämlich 729). Die übrigen 168 Gemeinden wurden von vornherein aus der Anschlussstudie ausgeschlossen, obwohl es natürlich interessant gewesen wäre, ob diese inzwischen digital „angeschlossen“ haben. Jedenfalls wäre das Ergebnis wohl ungünstiger für die Digitalformate ausgefallen, wenn nicht von vornherein diejenigen außen vor geblieben wären, die Digitalformaten offenbar zunächst skeptisch gegenüerstanden.

Während in der Ausgangsstudie die Gemeinden über kirchliche Email-Verteiler rekrutiert worden waren, hat Hörsch bei seiner Anschlussstudie im Internet nach den Email-Adressen derjenigen Gemeinden recherchiert, die in der Ausgangsstudie angegeben hatten, einen Digitalgottesdienst anzubieten. Interessanterweise gelang dies in nur 557 Fällen. In 24 % der Fälle konnte keine Email-Adresse ermittelt werden, was damit zusammenzuhängen scheint, dass ein Teil der Rückmeldungen zur ersten Studie keine Angabe einer Website enthielt. Von den 557 aufgefundenen Email-Adressen gab es dann schließlich die 194 Rückmeldungen, auf denen die Studie beruht. Das entspricht einem Anteil von gerade einmal einem Drittel. Auch hier drängt sich die Vermutung auf, dass sich bevorzugt diejenigen zurückgemeldet haben, die mit dem Thema der Studie „etwas anfangen“ konnten. Pfarrer, die digitalen Gottesdiensten eher skeptisch gegenüberstehen, könnten eher dazu tendiert haben, nicht an der Studie teilzunehmen, als Pfarrer, die den neuen Formaten euphorisch begegnen.

Ausgehend von problematischen Einschlusskriterien (nur diejenigen, die sich in der Ausgangsstudie schon „positiv“ zu Digitalgottesdiensten geäußert hatten), geringem Rücklauf (194) und wenig plausiblen Selbsteinschätzungen der Befragten (angeblich viermal höhere Resonanz auf Digitalformate als auf Präsenzgottesdienste) beweist die Studie letztlich nur eins: Diejenigen, die digitalaffin sind, sind digitalaffin. Völlig offen bleibt hingegen, wie die breite Masse der Kirchenmitglieder Digitalgottesdienst beurteilt und welche Reichweite digitale Verkündungsformate tatsächlich haben.

ReTeOG2-Studie

Die zweite Studie, auf die die EKD Bezug nimmt, ist eine Online-Befragung von Gottesdienstteilnehmern (ReTeOG2, Download Kurzfassung). Diese Studie hat nicht nur Kirchengemeinden, sondern unmittelbar Online-Gottesdienstbesucher in fünf Landeskirchen (Baden, Hannover, Hessen-Nassau, Rheinland, Württemberg) befragt. Mit über 4.000 Rückmeldungen ist die Stichprobe zwar vordergründig breit aufgestellt. Die vorliegende Auswertung bezieht sich allerdings wiederum nur auf diejenigen Befragten, die angaben, an einem Online-Gottesdienst teilgenommen zu haben. Etwa 500 Befragte blieben deswegen außen vor (S. 4). Vor allem aber hatten diejenigen keine Chance auf Teilnahme, die für digitale Angebote grundsätzlich nicht erreichbar sind. Dafür hätten auch Befragungen unter den Besuchern von Präsenz-Gottesdiensten stattfinden müssen.

Die Studie geht transparent mit der demographischen Zusammensetzung ihres Samples um. Hierbei zeigt sich erneut ein Problem bei der Repräsentativität. Denn die ganz überwiegende Mehrzahl von 76 % der Befragten war entweder beruflich oder ehrenamtlich in der Kirche tätig. Weitere 19 % waren „einfache“ Kirchenmitglieder, während Nicht-Kirchenmitglied praktisch nicht vertreten waren. In gewisser Weise bestätigt die Studie damit auch Beobachtungen aus Präsenz-Gottesdiensten: dass zwischen denen, die Gottesdienste besuchen, und jenen, die sie sie machen, eine erhebliche Kongruenz besteht. Der „Kern“ der Online- wie Präsenz-Kirchgänger besteht aus oft institutionell an die Kirche gebundenen Gläubigen. Außerhalb dieses Kreises stoßen die kirchlichen Angebote kaum auf Interesse.

Ausgehend von den Befragten gab – bei rückläufiger Tendenz gegenüber der Vorjahresbefragung – eine knappe Mehrheit an, auch dann noch an Online-Gottesdiensten teilgenommen zu haben, als es schon wieder Präsenzgottesdienste gab. Weitere 7 % konnten sich dies immerhin vorstellen. Allerdings äußerten auch nur 7 %, an einem Online-Gottesdienst prinzipiell kein Interesse zu haben (S. 8). Die Studie hat außerdem anhand bestimmter Stichwörte die erlebte Atmosphäre in Online-Gottesdienstbesuchen abgefragt. Dabei zeigte sich ein sehr disparates Bild. Lediglich „freundlich“ traf eine breite Zustimmung (73 %), während „einladend“ und „ermutigend“ jeweils unter der 50-Prozent-Marke blieben. Liturgisch wenig ermutigend ist der Befund, das nicht einmal ein Viertel der Befragten einen Online-Gottesdienst mit der Beschreibung „feierlich“ verbanden (S. 11).

In der Kommunikation der Studie wurde herausgestellt, dass sich letztlich knapp 80 % der Befragten generell für die Beibehaltung digitaler Angebote aussprachen. Immerhin 20 % – mit steigender Tendenz – wollten die Angebote überhaupt nicht fortführen (S. 12). Die scheinbar beeindruckenden Zahlen relativieren sich schnell, wenn man auf den Teilnehmerkreis zurückblickt: 75 % der Befragten waren haupt- oder ehrenamtlich in der Kirche engagiert. Sie dürften selbst an digitalen Gottesdiensten mitgewirkt haben. Es wäre überraschend gewesen, wenn sich dieser Befragtenkreis selbst gewissermaßen ein Scheitern digitaler Formate attestiert hätte. Außerdem sagt die sehr offen gehaltene Fragestellung nichts darüber aus, in welchem Umfang die Befragten sich derartige Angebote wünschen. Die Antwort „Ja – Online-Gottesdienste sollten möglichst auch nach der Corona-Zeit beibehalten werden“ kann bedeuten, dass die Befragten ganz allgemein die Aufrechterhaltung irgendwelcher Online-Gottesdienste befürworten. Damit ist nicht notwendig gemeint, dass die Beteiligten in der eigenen Gemeinde derartige Angebote fortführen wollen.

Ausblick: „Hinaus ins Weite“?

Der kritische Blick auf die beiden Studien zu Online-Gottesdiensten und ihre Kommunikation durch die EKD sollten nicht als generelle Ablehnung von Online-Gottesdiensten an sich missverstanden werden. Erforderlich ist aber ein nüchterner Blick auf Chancen und Risiken sowie das rechte Verhältnis zu Präsenzgottesdiensten. Keine der beiden vorliegenden Studien legt ein „Hinaus ins Weite“ (Ps 18,20) durch Online-Gottesdienste nahe, wie es Hörsch zu beschwören sucht (S. 50). Seine eigene Studie kreist um digitalaffine Pfarrer, die noch einmal bestätigt haben, dass sie digitalaffin sind. Sie gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass digitale Angebote tatsächlich Menschen erreichen, die bisher nicht von klassichen Gottesdiensten erreicht würden. Die ReTeOG2-Studie zeigt sogar ziemlich direkt, dass die Digitalkirche vor allem diejenigen erreicht, die (Digital-)Kirche ehren- oder hauptamtlich gestalten. Das deckt sich übrigens mit Beobachtungen in den sozialen Netzwerken. Die großen kirchlichen Nachrichtenportale wie evangelisch.de finden dort kaum Resonanz. Obwohl sie großzügig mit Ressourcen und manpower in den Redaktionen ausgestattet sind, erreichen diese Portale nur einen Bruchteil der Resonanz mancher jugendlicher „Sinnfluencer“. In den Kommentarspalten tummeln sich nicht zuletzt Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter. Würden die 66.000 Follower von evangelisch.de auf Facebook eine Landeskirche bilden, wäre diese auf dem Niveau von Schaumburg-Lippe und Anhalt eine dritte Kleinst-Landeskirche, die sich Fusionsforderungen ausgesetzt sähe. Oder anders ausgedrückt: Am Sonntag Invokavit besuchten deutschlandweit 2019 ungefähr 10 Mal so viele Gläubige einen Präsenz-Gottesdienst, als evangelisch.de Follower hat.

(mf)