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Evangelische Messe – der etwas andere Gottesdienst

Von Pfarrer Wolfgang Huber

In der Universitätskirche in Marburg wird wöchentlich und zu den Festen des Kirchenjahrs ein Gottesdienst gefeiert, der einen für viele befremdlich oder sogar widersprüchlich erscheinenden Namen trägt: „Evangelische Messe“. Aber die Bezeichnung „Evangelische Messe“ trifft es! Denn „Messe“ meint eine Form des Gottesdienstes und nicht seine konfessionelle Prägung. „Messe“ ist die im „Abendland“ entwickelte Form des Gottesdienstes mit zwei Höhepunkten: die Lesung des Evangeliums, durch die Christus direkt zu uns spricht, und die Feier des Abendmahls, mit der Christus uns „real“ Anteil am ewigen Leben schenkt.

Luthers „Deutsche Messe“

Die Reformation hat die Messe nicht abgeschafft, sondern den Gottesdienst in dieser Form – wie das ganze kirchliche Leben – wieder ausgerichtet an der Bibel. Luther veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel „Deutsche Messe“, die das evangelische Gottesdienst-Konzept vorstellte. Die Reformatoren um Luther waren also keine Revolutionäre, sondern führten die bis in die Alte Kirche zurückreichende Gottesdienstform fort, ließen aber das beiseite, was der Bibel widersprach, nämlich die vielen „Zusätze“ des sog. römischen Messkanons, der überdies lateinisch war. Denn diese verdeckten das Wichtigste: das Evangelium und Christi eigene Worte beim Abendmahl.

Bei der „Evangelischen Messe“ (oder „Deutschen Messe“) handelt es sich also um:

  • eine Gottesdienstfeier (Liturgie) ganz auf der Grundlage der Heiligen Schrift.
  • einen Gemeindegottesdienst in der Sprache der Gemeindeglieder, damit diese alles verstehen und sich beteiligen können, nämlich durch ihr Gebet und ihren Gesang. Denn durch die Taufe sind alle Priester und können und sollen füreinander beten und im Leben und im Glauben helfen. Im Gottesdienst freilich gibt es unterschiedliche Dienste oder Aufgaben, etwa der Musik, des Lesens, des Hörens, der Verkündigung, der verantwortlichen Schriftauslegung, des liturgischen Dienstes. Denn alles soll geordnet sein in einer Kultur des Miteinanders.
  • einen Gottesdienst, der den traditionellen Messablauf mit seiner bewährten Reihenfolge der Stücke beibehält. Dies sind: Kyrie eleison (Herr, erbarme dich) – Gloria in excelsis Deo (Ehre sei Gott in der Höhe, Allein Gott in der Höh sei Ehr) – Credo (Wir glauben all an einen Gott) – Sanctus (Heilig, heilig, heilig) – Benedictus (Gelobt sei der da kommt) – Agnus Dei (Christe, du Lamm Gottes).

Manches wurde im Zuge der Reformation freilich vereinfacht, so neben manch anderen Äußerlichkeiten die Gewandung der Pfarrer. Diese hatte nicht mehr die vormalige Bedeutung, etwa die geweihten Kleriker von den Laien abzuheben, sondern alles diente der Inszenierung des Evangeliums in der Lesung des Wortes und der Feier des Sakraments. Am Altar trug man weiterhin ein weißes Gewand oder ein Chorhemd. Der schwarze Talar war eigentlich das Alltagsgewand der Theologen, das sie als Angehörige eines akademischen Standes kenntlich machte.

Die reichhaltige Gottesdienstform der „Deutschen“ oder „Evangelischen Messe“ hat Jahrhunderte lang kirchliche Leben des Luthertums, das in Deutschland den weitaus überwiegenden Teil (etwa 90%) des Protestantismus ausmachte, geprägt und sie hat befruchtend gewirkt: Ohne diese liturgische Tradition, die dann auch noch die deutschsprachigen Gemeindelieder als Choräle in den Gottesdienst integrierte, hätte es die so sinnenfreudig-affektreiche Kirchenmusik von Prätorius, Schütz, Buxtehude oder Bach nie gegeben!

Liturgische Wende zum Predigtgottesdienst in der Aufklärungszeit

Die Errungenschaften nach der Aufklärungszeit, die Jahrzehnte von etwa 1750 bis 1820, brachten dann allerdings einen tiefen Einschnitt. Unter dem Diktat vermeintlicher Vernünftigkeit wurde nun die gesamte Tradition umgestürzt – und die Erscheinungsform des Protestantismus geprägt, die wir heute als „evangelisch“ bezeichnen, viel textlastiger und sinnenfeindlicher. Die Geringschätzung äußerer Gesten (Knien, Sich-Bekreuzigen oder Hände-Falten) wurde zum konfessionellen Merkmal, mit dem man sich vom Katholizismus demonstrativ unterscheiden wollte. Musik und andere sinnenhafte Elemente des Gottesdienstes wurden zurückgedrängt. Alles Gewicht wurde auf die Predigt gelegt, die gern auch dauern konnte – zu lang, zu schwer und zu wenig ansprechend für viele Gemeindeglieder. Kein Wunder, dass man den „Protestantismus“ vor allem mit freudloser Strenge verband.

Gottesdienst mit allen Sinnen wiederentdecken

Die alte Messform in ihrer Lebendigkeit, ihrem Affektreichtum und ihrer Gemeindebezogenheit musste erst wiederentdeckt werden. Dies gelang der sog. Liturgischen Bewegung, die es nicht nur im Protestantismus – in der Universitätskirche Marburg seit den 1920er Jahren -, sondern vor allem auch in der römisch-katholischen Kirche gab. Das II. Vatikanische Konzil mit seinem grundlegenden Reformen nutzte die Chance, auch viele Anliegen der lutherischen Gottesdienstauffassung aufzunehmen und als „gut katholisch“ zu integrieren. Es ist aber auch für evangelische Christenmenschen schön, Gottesdienst mit allen Sinnen (sichtbar, zeichenhaft, singend und hörend, auch körperlich bewegt) zu feiern – so wie der Glaube uns als ganze Menschen mit Herzen, Mund und Händen erfüllen und bewegen soll.

Wolfgang Huber ist Pfarrer der evangelischen Universitätskirchengemeinde in Marburg (Lahn). Die Evangelische Messe wird dort jeden Donnerstag um 19 Uhr gefeiert. Eine Viertelstunde vorher stimmt eine Orgelvesper auf den Abendgottesdienst ein.